Handelsleistung ist nicht patentierbar

Handelsleistung ist nicht patentierbar

Professor Dr. Wolfgang Merkle im Gespräch mit dem Connaisseur Consumer Blog.

Vom steten Wandel im Handel wird seit je her gern gesprochen. Die große Dynamik im LEH und bei den Discountern, der drohende Niedergang der Warenhäuser und der allgegenwärtige E-Commerce waren daher auch die Themen, die unser Gespräch mit einem Grandseigneur der deutschen Handelslandschaft prägten, mit Professor Dr. Wolfgang Merkle.

Der promovierte Betriebswirt arbeitete für die Otto group, war Geschäftsführer für ZARA und Massimo Dutti, CMO bei Galeria Kaufhof sowie in mehreren Führungsfunktionen bei Tchibo tätig. Mit seiner Beratungsfirma „MerCon – Concepts for Retail“ unterstützt Merkle heute namhafte Unternehmen sowie aufstrebende Start Ups in Fragen des strategischen und operativen Marken und Kommunikationsmanagements. Parallel hält er eine Professur für Marketing an der University of Applied Sciences Europe in Hamburg, wo er zudem auch als Präsident des Marketing Clubs amtiert.

Ein Interview über das „Wheel of Retailing“ sowie über aktuelle Trends in Marketing und Markenführung.

Herr Dr. Merkle, warum ist es offensichtlich schwieriger geworden, Konsumenten und Kunden zu überzeugen? Sind diese generell wählerischer, anspruchsvoller, kritischer geworden?

Die klare Antwort auf diese Frage muss lauten: Sowohl als auch. Kritischer werden Konsumenten zunächst deshalb, weil sie im aktuellen gesellschaftlichen Bewusstsein ohnehin viel stärker hinterfragen und sich mit den vorgefertigten Standards nicht mehr so leicht ansprechen lassen. Gute Beispiele dafür sind das massive Wachstum von Adblockern oder die kritischer werdenden Diskussionen in der Öffentlichkeit der sozialen Medien. Wählerischer sind Konsumenten vor allem deshalb geworden, weil sie viel bewusster konsumieren und dabei gezielt auch die Abwechslung suchen; die aktuelle Mega Trendforschung rund um Regionalität, Nachhaltigkeit, Convenience, Individualisierung beziehungsweise Customizing zeigen das sehr eindrucksvoll.

Noch einmal nachgefragt: Eine ganze Marketing Epoche hat nach der Devise gearbeitet, dass der im Prinzip gesättigte Konsument hauptsächlich über Emotionen anzusprechen ist. Gilt das heute auch noch so?

Emotionen bleiben nach wie vor wichtig – Emotionen müssen heute jedoch noch kundenorientierter entwickelt und abgeleitet, sie müssen noch konsequenter mit den konkreten Inhalten und dem jeweiligen Kontext verknüpft werden. Das heißt, dass man in der heutigen Konsumgesellschaft die Konsumenten nur dann erreicht, wenn die Botschaften für sie inhaltlich wirklich relevant sind. Und das gilt nicht nur für die Inhalte selbst, sondern auch für die grundlegende kreative Idee und die Medien, die für die jeweilige Streuung genutzt werden.

Die Geschichte um das Produkt oder um die Marke sei wichtiger geworden, hört man von den Experten. Content Marketing und Storytelling heißen die neuen Zauberwörter. Schließen Sie sich diesen Kollegen an?

Definitiv – ich habe das eben ja schon angedeutet. Um den Kunden heute nicht nur generell anzusprechen, sondern emotional auch wirklich zu begeistern, muss die Kommunikation zur bedeutungsvollen Geschichte werden. Mit einer wichtigen Ergänzung: In dem aufgeklärten gesellschaftlichen Bewusstsein reicht „platte“, oberflächliche Reklame nicht mehr aus – Kommunikation ist insbesondere dann erfolgreich, wenn sie in ihrer gesamten Komposition authentisch, glaubwürdig und ehrlich ist.

„Bei Kaffee ist es fast wie mit Wein.“

Wie vermittelt man denn heutzutage beispielsweise die Produktqualität von Kaffee? Wieviel sachliche Information über Güte, Herkunft und Herstellung verlangt der Kunde? Wieviel davon verträgt er?

Bei Kaffee ist es fast wie mit Wein: Jede Kaffeesorte, jede Anbaumethode, jede Provenienz, jede Röstung und jede Mischung erzeugt ein unterschiedliches Geschmackserlebnis – Kaffee ist eben nicht Kaffee. Und genau diese Unterschiede gilt es zu erklären, da reichen die aus der Vergangenheit bekannten klischeegetriebenen Wohlfühlkreationen nicht mehr aus. Die Kunst dabei ist, die richtige Mischung aus spannenden Inhalten und guter Kreation zu finden – und das bedeutet möglicherweise auch, neue Medien und Werbewege jenseits des Mainstreams beim Erreichen des Konsumenten mit einzusetzen.

Kaffee ist ein Genussmittel des alltäglichen Gebrauchs. Gibt es beim Kunden dennoch Tendenzen, Kaffee für unterschiedliche Anlässe in unterschiedlicher Qualität zu kaufen? Wir kennen das ja beispielsweise von Wein und Schaumwein.

Ja, Sie haben Recht. Für große Teile der Gesellschaft hat sich Kaffee zur Commodity entwickelt; ein Standard, der aus Pappbechern konsumiert und im Supermarkt vornehmlich im Sonderangebot gekauft wird. Dieses Nachfrageverhalten wird von vielen Anbietern durchaus bedient, in der Differenzierung zum Wettbewerb und in der Begeisterung der Konsumenten kann man jedoch auch einen anderen Weg einschlagen. In der heutigen Konsumwelt kann man treue Kunden bei gleichzeitig guten Margen auch über die gezielte Integration von Spezialitäten im Sortiment erreichen. Wichtig ist dabei aber die Professionalität und Authentizität des eigenen Auftritts – mit der Vermittlung spezifischer Hintergründe und Geschichten. Kaffee bietet dafür die besten Voraussetzungen.

Gibt es abseits der bekannten Zielgruppendefinitionen so etwas wie eine Kaffeetrinker Typologie, die auch auf Motivationen, soziokulturelle Herkünfte und Kaufverhalten reflektiert? Was bedeutet das für Produktportfolios und Markenkommunikation?

Ja, das gibt es – natürlich. Dabei werden die verschiedenen Kaffeetrinker nicht nur bezüglich ihrer Gruppengröße, ihrer Soziodemografie und Herkunft präzise beschrieben. Für die Kaffeebranche ist zudem wichtig, die einzelnen Typen sehr klar mit konkreten Geschmacks- und Sortenprofilen zu hinterlegen, die regelmäßig zu verkosten und zu überprüfen sind. Aus dieser Analyse versucht man dann, vielversprechende Kommunikationsmuster und Medien abzuleiten.

In der Gastronomie ist Kaffee von „Cold Brew“ bis „Nitrokaffee“ durchaus angesagt. Ist das nur ein Hipster Thema oder ein Trend, von dem auch die großen Kaffeemarken profitieren können?

Aktuell werden viele Themen „gehypt“ – und das zeigt, wie vielfältig sich Trends derzeit entwickeln. Insofern gilt es, in der Fragmentierung der verschiedenen Geschmacksmuster, Zubereitungsarten und Konsumanlässe die spannendsten Marktentwicklungen genau zu verfolgen. Viele dieser Themen sind gerade für die größeren Kaffeemarken zu klein, um sinnvoll und dauerhaft bedient zu werden. Dennoch gilt es laufend zu überprüfen, inwieweit sich beispielsweise für bestimmte Saisonanlässe einzelne dieser Themen als Inspirations oder Innovations Highlight gezielt in den Aktionskalender einbauen lassen.

Jüngst stand zu lesen, die kleinen Kaffeeröstereien, die vermehrt in den Städten anzutreffen sind, seien die Craft Beer Brauer des Kaffeemarktes. Ist an dieser Analogie Ihrer Einschätzung nach was dran?

Aus meiner Sicht ist dies eine schöne Analogie, denn gerade im Biermarkt lassen sich die Kunst der Herstellung, die Bedeutung der Zutaten und die Leidenschaft der richtigen Zubereitung ähnlich leben wie im Kaffeemarkt.

„In diesem ‚Wheel of Retailing‘ kann die Antwort der klassischen Fachgeschäfte nur sein, sich ebenfalls beständig weiterzuentwickeln und dabei wiederum als Trendsetter zu fungieren.“

Die Discounter profilieren sich immer mehr mit Genuss Sortimenten. Gleichzeitig werden die Filialen auf mehr Qualität getrimmt. Der Abstand zum klassischen LEH fällt so immer kleiner aus. Wie sollen REWE und EDEKA Ihrer Ansicht nach darauf reagieren? Ebenfalls mit Uptrading, um den alten Abstand wieder herzustellen?

„Handel ist Wandel“ – das ist eine der bedeutenden Management Weisheiten dieser Branche. Und dass die Handelsleistung gleichzeitig nicht patentierbar ist, zeigt sich in der permanenten Weiterentwicklung der Discounter, die seit jeher erfolgreiche Konzepte der Wettbewerber zielgerichtet in ihr eigenes Geschäftsmodell integrieren. In diesem „Wheel of Retailing“ kann die Antwort der klassischen Fachgeschäfte nur sein, sich ebenfalls beständig weiterzuentwickeln und dabei wiederum als Trendsetter zu fungieren. Dies geschieht über eine größere Sortimentsvielfalt mit aus den schon genannten Trends abgeleiteten, inspirierenden Produktideen, über begeisternde Inszenierungs- und Merchandising Konzepte sowie über eine fachkundige, kompetente und authentische Beratungsleistung. Dies macht die Handelsleistung insgesamt anspruchsvoller und komplexer – im Ergebnis für den Konsumenten aber auch wieder interessanter und attraktiver.

Es ist viel über die Krise der Warenhäuser geredet worden. Wie wichtig ist dort die Lebensmittel beziehungsweise Feinkost Abteilung, um für das innerstädtische Publikum attraktiv zu bleiben?

Ein Warenhaus wird auf Dauer nur dann erfolgreich bleiben, wenn es sich zum unmittelbaren Wettbewerbsumfeld positiv abgrenzt. Und dazu gehört die konsequente Verabschiedung von dem „alles-unter-einem-Dach“-Gedanken, mit dem ein Warenhaus in der heutigen Angebotsvielfalt des mittlerweile internationalen Wettbewerbs ohnehin nicht mehr erfolgreich bestehen kann. Einen der wesentlichen Treiber beziehungsweise Ankersortimente in dieser Neuausrichtung bilden dabei zweifelsohne die Feinkost Abteilungen, die nicht nur in der Lage sind, über eine besondere Sortimentsauswahl eine qualitative Abgrenzung zum Mainstream des Wettbewerbsumfeldes zu bieten, sondern gleichzeitig auch sinnvolle und inspirierende Sortimentsverbünde herzustellen: das Kristallglas zum Champagner, die Schokolade zum Whisky, den Apfel zum Käse und so weiter. Über solche inspirierenden Kombinationen erhält der Begriff des Category Managements eine vollkommen neue Bedeutung.

Im Gegensatz zum stationären Handel ist die sinnliche Erfahrbarkeit von Genussprodukten im Internet naturgemäß eingeschränkt. Wie kann der klassische Handel diesen Vorteil besser ausspielen? Und was muss ein Online-Shop beachten, um diesen Nachteil zu kompensieren?

Je stärker der Wettbewerb zwischen den klassischen Offline Anbietern und den neuen, technologisch häufig brillant gesteuerten Online Modellen wird, umso stärker steigt die Bedeutung des sogenannten multisensualen Marketing. Keine Frage: Die fünf grundlegenden Sinne Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken kann aktuell nur der stationäre Handel erfolgreich und überzeugend einsetzen, was in den Benchmarkings der Branche auch schon längst geübte Praxis ist. Onlinehändler versuchen demgegenüber, ihre Shops über eine stärkere Individualisierung, über die Integration von lifestyle-orientierten Anwendungsbeispielen und die Einbindung von Influencern ihre Bedeutung zu geben. Beides sind spannende Entwicklungen, die sich aus meiner Überzeugung sogar gegenseitig befruchten können.

Fragen wir Sie einmal ganz persönlich. Sehen Sie sich selbst als Genießer? Und was kennzeichnet Ihre Art des Genießens?

Eindeutig ja, ich sehe mich als Genießer. Denn das Berufsleben mit seinen immer dynamisch werdenden Routinen erfordert es einfach, dass man sich regelmäßig einen Genuss zwischendurch gönnt – kleine, inspirierende und belebende Pausen, bei denen hochwertige, abwechslungsreiche Feinkost- und Genussartikel eine wichtige Rolle nicht nur in der eigenen Rekreation, sondern auch in dem bewussten Erleben der Umwelt spielen.

Zum Abschluss noch drei kurze Fragen mit der Bitte um drei kurze Antworten. Barolo oder Bitburger? Sushi oder Matjes? Chateaubriand oder Tomahawk?

Kurze Antwort? Bei mir gibt es bei diesen Begriffspaaren leider keine eindeutigen Gewinner. Bei mir ist das situativ – ich liebe alle der sechs zur Auswahl gestellten Alternativen…

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    Die Gender-Diskussion ist noch lange nicht beendet

    Die Gender-Diskussion ist noch lange nicht beendet

    Das Thema Gender-Marketing wird derzeit kontrovers diskutiert. Nicht umsonst macht der Marketingclub Hamburg, einer der größten Marketingclubs in Deutschland, Ende Mai einen Abend zum Thema „Pink Painting: Gender-Marketing als Mittel zur Wahl?“ in der Alsterloge. Der Hamburger Marketingclub Präsident, Wolfgang Merkle, nahm vorab Stellung zu zentralen Fragen.

    Herr Prof. Dr. Merkle, Gender-Marketing wird zunehmend kritisch diskutiert. Ist das Konzept noch zeitgemäß?

    Warum „noch“? Die aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussionen rund um ungleiche Bezahlung oder Besetzung von Geschäftsführungs- und Vorstandsmandaten belegen deutlich, dass die Gender-Diskussion noch lange nicht beendet ist. Und gerade in einer Zeit, in der Konsumenten von Unternehmen verstärkt ethisches Handeln und die Einhaltung gesellschaftspolitischer Standards einfordern, werden die Berücksichtigung genderspezifischer Standards und die Überwindung überkommener Rollenmodelle wichtiger. Unternehmen müssen akzeptieren, dass sie auch eine gesellschaftspolitische Verantwortung haben – und das wird in dieser Diskussion deutlich.

    Ein aktueller Kritikpunkt ist Gender-Pricing: Gleiche Produkte sind für Frauen teurer als für Männer – siehe Nassrasierer. Ist das nachvollziehbar?

    Dieser Punkt muss differenzierter diskutiert werden. Denn ein wichtiger Eckpfeiler innerhalb unserer liberalen Marktwirtschaft ist der Grundsatz, dass Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen; mit dem dahinterstehenden Mechanismus, dass Konsumenten eigenverantwortlich entscheiden, ob und zu welchem Preis sie ein Produkt kaufen. Eine verbindliche Vorgabe einheitlicher Preise für bestimmte Produkte wird in einem solchen System kaum durchsetzbar sein; zumal dies eine Kontrolle nicht nur von vermeintlichen Gender-Produkten, sondern von sämtlichen Sonderauflagen und Special Editions nach sich ziehen müsste. Unabhängig davon, dass im aktuellen, eher preisaggressiv geführten Wettbewerb mit einer großen Auswahl alternativer Einkaufsstätten bei den meisten Produktkategorien ohnehin ein günstiges Preisumfeld vorherrscht.

    Kommt ein Teil der Kritik gegenüber Gender-Marketing daher, dass die Unternehmen nicht Gender-Marketing, sondern Pink Painting nach dem Motto „Pink it and shrink it“ machen?

    Ja, davon kann man ausgehen. Gemäß der Analogie „Pink Painting ist das neue Green Washing“ wird es sicherlich eine ganze Reihe von Unternehmen geben, die sich in die Gender-Diskussion nicht aus festen Überzeugungen, sondern eher aus einem simplen Geschäftskalkül heraus engagieren. Ein solches Vorgehen ist jedoch kritisch zu hinterfragen: Denn faktisch heucheln sie eine Diskussion um soziale Verantwortung vor, die nicht wirklich ernst gemeint ist. Und so finden sich sehr häufig gerade bei Unternehmen, die aktive Kommunikation im Gender-Bereich betreiben, besonders große Lücken.

    Wann ist Gender-Marketing in Unternehmen sinnvoll?

    Die Frage der Geschlechterbehandlung beziehungsweise die Hinterfragung, wie zeitgemäß Rollenmodelle der Gesellschaft von Unternehmen bedient werden, sollte grundsätzlich im Rahmen der jeweiligen Unternehmensphilosophie reflektiert werden. Aus meiner Erfahrung sollte dies allerdings nicht übertrieben dogmatisch vorgenommen werden, sondern als selbstverständlicher, integrierter Bestandteil der generellen Frage des Umgangs mit Mitarbeitern und Öffentlichkeit. Auch wenn wir uns einig sind, dass es bei vielen Unternehmen hier noch Nachholbedarf gibt.

    WWelches positive Beispiel hat Sie in der letzten Zeit besonders beeindruckt?

     Als Vorreiter im Umgang mit vermeintlich heiklen gesellschaftspolitischen Themen und in der Überwindung alter Konventionen ist sicherlich Dove zu nennen, die mit ihren Kampagnen spannende Beispiele liefern. Zum letzten Jahreswechsel interessant war die internationale Weihnachtskampagne von Lidl – vor allem deshalb, weil man die Infragestellung der Bedeutung eines Weihnachtsmannes gerade einem Unternehmen wie Lidl nicht zugetraut hätte.

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      Auf eigene Stärken rückbesinnen

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      Aus dem Best Brands Ranking geht hervor, welche Modemarken in Deutschland das beste Image haben. Die Branche befindet sich jedoch im Wandel, wobei ein Knackpunkt im Online Sektor liegt. Retailexperte Dr. Wolfgang Merkle gibt Handlungsempfehlungen.

      Herr Dr. Merkle, in verschiedenen Vorträgen und Artikel vertreten Sie die Auffassung, dass sich der deutsche Einzelhandel noch zu wenig mit dem Thema Digitalisierung beschäftigt. Warum ist das der Fall?

      Deutsche Retailer werden aktuell mit zwei Themenblöcken konfrontiert, durch die es zu ganz deutlichen Veränderungen in der Handelslandschaft kommt: Einerseits entstehen aus der sogenannten digitalen Revolution heraus komplett neue Technologien, Medienformate und Online-Modelle, die zu einem ganz neuen Wettbewerb führen. Andererseits erwächst parallel dazu ein völlig neues Konsumentenbewusstsein, das nicht nur mit einem deutlich höheren Anspruchsdenken einhergeht, sondern eine generell abnehmende Loyalität gegenüber tradierten und über lange Zeit gewohnten Einkaufsstätten nach sich zieht.

      Und darauf muss die Branche reagieren…

      Im Ergebnis wird es daraus zu tiefen Umbrüchen in der deutschen Handelslandschaft kommen: Aktuellen Studien zufolge werden in den nächsten fünf Jahren bis zu 30 Prozent aller stationären Outlets aus dem Markt ausscheiden, während der Online Handel mit ständig neuen Ideen die Konsumenten immer stärker begeistert, komplett neue Servicestandards setzt und immer weiter deutlich wachsen wird. Diesen dramatischen Veränderungen setzen klassische Retailer bisher jedoch nur wenig entgegen. Das gilt sowohl für die reinen Einzelhändler als auch für die Flagship Konzepte der Markenartikelunternehmen.

      Warum fallen Retailern die Anpassungen so schwer?

      Obwohl es Einzelhändlern unter der Erkenntnis ‚Handel ist Wandel‘ eigentlich in seinen Genen liegen sollte, seine Geschäftsmodelle immer wieder neu auf den Prüfstand zu stellen, wird die Dynamik und die Nachhaltigkeit der aktuellen Strukturverschiebungen offenbar deutlich unterschätzt und viel zu lange an bestehenden Rezepten festgehalten. Die Veränderungen aus den digitalen Umfeldern haben noch zu keinem echten Weckruf des deutschen Handels geführt. Kein Wunder also, dass sich einer der Zalando-Gründer genüsslich mit den Worten »Geschäfte sind Mittelalter – sie wurden nur gebaut, weil es kein Internet gab« zitieren lässt.

      Woran liegt es denn, dass zu lange an bestehenden Konzepten festgehalten wird?

      Eigentlich sind Veränderungen ein prägender Wesenszug des Handels. Allerdings werden durch die Dynamik und die Geschwindigkeit der Veränderungen, die mit immer kürzeren Halbwertzeiten von technologischen Standards einhergehen, komplett neue Maßstäbe gesetzt. Sie erfordern eine konsequente und radikale Veränderungsmotivation mit noch schnellerem Umdenken mit noch konsequenteren Anpassungen; eine Konsequenz, die so in der Vergangenheit nicht notwendig war und die viele der noch im letzten Jahrtausend ausgebildeten Entscheider offensichtlich überfordert.

      Was sollten Textil bzw. Modeeinzelhändler Ihrer Meinung nach tun?

      Fakt ist: Der Konsument von heute ist im Netz aktiv unterwegs. Deshalb müssen sich Fashion-Anbieter auf jeden Fall damit beschäftigen, wie sie ihre eigenen Kunden kommunikativ am besten erreichen. Und dabei geht es nicht nur um die Auswahl der bestmöglichen Kommunikationskanäle, sondern auch um die richtige Tonalität. Denn gerade im Social Media-Zeitalter zählt ein authentischer und direkter Dialog. Entscheidend ist jedoch die bestmögliche Differenzierung, um über die haptischen und dreidimensionalen Erlebnisstärken des Retail ein klares Gegengewicht zur anonymen Einkaufsrealität des Netzes aufzubauen. Die klassischen Handlungsfelder in der Suche nach überzeugenden Mehrwerten bleiben dabei die gleichen: Retailer müssen sich mit der konkreten Erwartungshaltung ihrer Konsumenten auseinandersetzen und sich sehr offen die Frage beantworten, warum so viele ihrer ehemaligen Kunden ins Netz abwandern oder ihre Bedürfnisse stationär nicht mehr erfüllt sehen. Gleichzeitig müssen sich stationäre Händler sehr detailliert die Frage beantworten, über welche konkreten Maßnahmen sie eine klare und überzeugende Differenzierung zu ihren digitalen Wettbewerbern erreichen können. Und dabei sollte jedem klar sein, dass eine wirkungsvolle Abgrenzung keinesfalls nur im Preis liegen kann.

      Wie kann diese Abgrenzung zu den Online Wettbewerbern aussehen?

      Um mehr zu bieten, als es ein Online Shop jemals alleine kann, sollte sich der Stationärhandel ganz deutlich rückbesinnen auf seine eigentlichen Stärken wie Service, Dienstleistung, Beratung und Innovation – ein klares Plädoyer für die Neuerfindung des Einkaufserlebnisses. Für einen Fashion Anbieter kann das beispielsweise bedeuten, seine Kompetenzen in einer freundlichen und kompetenten Beratung wieder auszuspielen, seinen Kunden eine Vorauswahl und passende Outfit Vorschläge anzubieten oder an der Kabine rundum und mit dem notwendigen Fingerspitzengefühl zu versorgen: Services, für die Konsumenten spontan deutlich mehr ausgeben als geplant und die technologiegetriebenen Plattformen so nicht nachstellen können.

      Services, für die man auch passendes Personal braucht…

      Ein sehr wichtiger Aspekt in der notwendigen Differenzierung ist vor allem auch die Servicequalität der eigenen Mitarbeiter. In der Vergangenheit häufig als bloßer Kostenfaktor angesehen, muss bei den wachsenden technologischen Beratungsinitiativen der Webshop Wettbewerber zunehmend wieder auf persönliche und authentische Bedienungs und Servicequalität gesetzt werden. Denn hier geht es um mehr als nur Differenzierung – hier geht es um eine nachhaltige Profilierung gegenüber dem Online Handel.

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