Andreas Krämer und Wolfgang Merkle

Dynamisch oder nicht!? Chancen und Risiken von Dynamic Pricing im stationären Einzelhandel

Welche Chancen und Risiken bietet der Einsatz von Dynamic Pricing im stationären Einzelhandel? Eine flexible Presigestaltung verspricht Gewinnsteigerungen, kann aber auch Kunden- und Partnerbeziehungen gefährden. Eine umfassende Betrachtung ist erforderlich.

In kaum einer Branche sind die aktuellen herasuforderungen so hoch wie im stationären Einzelhandel. Treiber ist zum einen ein immer facettenreicherer Wettbewerb durch die Konkurrenz großer Handelsunternehmen, Direct-to-Consumer-Angebote von Herstellern, den verstärkten Pusch der Online-Angebote durch die Lockdowns, Vertriebsaktivitäten über Social Media und die gestiegene Relevanz von Preisvergleichsportalen. Zum anderen ist es das erhöhte Anspruchsniveau der Konsumenten (‚The next competitor is just one click away‘) sowie veränderte Einstellungen der Verbraucher als Ergebnis der Corona-Krise. In der Konsequenze verschärft sich der Umsatz-, Margen- und Ergebnisdruck immer weiter. Dabei wirken zeitgleich mehrere Entwicklungen, die sich teilweise gegenseitig verstärken: der Trend der Austauschbarkeit, zur Digitalisierung, zum Omnichannel-Vertrieb und zur Nachhaltigkeit (Abb. 1).

Abb. 1: Dynamic Pricing im stationären Handel und veränderte Rahmenbedingungen Quelle: Exeo Strategic Consulting AG

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch der stationäre Einzelhandel automatisierte Pricing-Prozesse und Preisbestimmungsstrategien (Dynamic Pricing = DP) verstärkt in Erwägung zieht. Erwartet wird unter anderem ein Schlüssel für bessere Margen, wobei Umsatzsteigerungen von fünf bis sieben Prozent im Raum stehen. Parallele Entwicklungen im E-Commerce scheinen den Takt vorzugeben, da sich dort Preise regelmäßig ändern, teilweise von einem Tag auf den anderen, von Stunde zu Stunde oder sogar von Kunde zu Kunde. Die Erfahrungen daraus werden zunehmend auch im klassischen Einzelhandel diskutiert – in dem Bestreben, Erfahrungswerte digitaler Anbieter auch auf das eigene Geschäftsmodell zu übertragen. Mit der stärkeren Verbreitung elektronischer Preisschilder entfällt eine bisher wichtige Nutzungsbarriere. Spätestens dann, wenn Diskussionsbeiträge mit dem Titel ‚Mit Dynamic Pricing werden Händlerwünsche wahr‘ überschrieben sind, offenbart sich jedoch auch die Gefahr eines Tunnelblicks.

Obwohl die Preiskompetenz beim Handel liegt, ergeben sich doch innerhalb der veränderten Rahmenbedingungen vielfältige Abhängigkeiten zwischen Handelsunternehmen auf der einen sowie Endkunden bzw. Verbrauchern und Markenherstellern auf der anderen Seite. Im Hinblick auf den Einsatz eines flexibilisierten Preismanagements bestehen teilweise sehr unterschiedliche Ansprüche. So wurde in unterschiedlichen Studien festgestellt, dass die Verbraucher einem DP allgemein, aber speziell im stationären Einzelhandel reserviert bis ablehnend gegenüberstehen.

Sicht der Marketingentscheider

Die Befürworter digitaler Preismodelle bringen viele Argumente vor, die für den Einsatz dieser Technologien sprechen – und tatsächlich erscheinen die damit möglichen betriebswirtschaftlichen Chancen für den unter Margen- und Ergebnisdruck stehenden Handel vielversprechend. Die Nachteile und indirekten Wirkungen sind allerdings weniger evident. Wissenschaftlich untersucht werden in der Regel einzelne Facetten des DP, während eine ganzheitliche, übergreifende Sicht oft fehlt. Den in der finalen Entscheidungsfindung müssen sämtliche mit der Nutzung verbundenen Aspekte einbezogen und sauber gegeneinander abgewogen werden, sowohl aus einer unternehmensinternen als auch -externen Perspektive (Abb. 2).

Abb. 2: Bestimmungsfaktoren für den Einsatz von Dynamic Pricing im stationären Handel Quelle: Exeo Strategic Consulting AG

Im Rahmen einer Expertenbefragung (Händler, Lieferanten, Dienstleister) wurden im April 2021 Online-Interviews mit 91 Marketingentscheidern geführt, um die Sicht der Entscheider zu erweitern. In einer Eingangsbewertung beurteilten die Handelsexperten zunächst die bisherige (11% hoch) von DP im stationären Handel und bestätigten damit eine stark zunehmende Bedeutung. Zusätzlich wurden sechs Eckpunkte der Machbarkeit eines DP hinsichtlich ihrer Wichtigkeit beurteilt; drei interne und drei externe Aspekte, die in ihrer Relevanz durchgängig als eingestuft werden (Top-2-Bewertungen von mindestens 47%). Die höchste Bewertung wird den Aspekten Datenverfügbarkeit und Technologie (92%) sowie Verbrauchersicht (Preisbereitschaft/Akzeptanz, 82%) zugeordnet.

Aber auch andere Aspekte zeigen eine hohe Relevanz. So sehen 64% der Experten die Notwendigkeit, dass ein DP im Einklang mit der Unternehmensstrategie stehen muss, was die Notwendigkeit zur Überprüfung der eigenen Kompetenz notwendig werden lässt. 63 Prozent betrachten die Einbeziehung der Wettbewerbssicht und die Abschätzung der Reaktionsmuster im Konkurrenzumfeld als wichtig oder sehr wichtig. Etwa 60 Prozent sehen im Zusammenspiel zwischen Handel und Marktpartnern bzw. Markenherstellern einen relevanten Aspekt.

Kritische Bewertung durch Markenhersteller

Die Handelsexperten wurden in einem weiteren Schritt um eine Einschätzung gebeten, wie sie sinnvoll die Einführung des DP (Preisgestaltung, bei der die Produktpreise häufiger angepasst werden, das heißt wenn die Nachfrage steigt, steigt der Preis, wenn die Nachfrage fällt, sinkt der Preis) halten. Auf einer 6er-Skala erreichen die Top-3-Ausprägungen insgesamt 59 Prozent Anteil (Befürworter DP), während 41 Prozent dies nicht für sinnvoll halten (Ablehner DP). Eine positive Grundhaltung zum flexiblen Pricing geht vielfach mit der Annahme einher, dass die Erfahrungen aus dem Online-Handel auf den stationären Handel übertragbar seien.

Demgegenüber verfügen Experten, die in der Herstellung von Markenartikeln tätig sind, über eine dominierend negative Einschätzung (25% Befürworter DP, 75% Ablehner DP). Für diese kritische Beurteilung scheinen erwartete Risiken in der Wahrnehmung ihrer Markenprodukte sowie bei Zahlungsbereitschaften verantwortlich zu sein, wie folgendes Zitat eines Studienteilnehmers belegt: „Preis-Wahrheit und -Klarheit werden damit strapaziert. Die Rechtfertigungskompetenz wird wichtig und schadet in Teilen der Markenglaubwürdigkeit.“

Ambivalente Bewertung des Dynamic Pricing

Zur weiteren Vertiefung de Zusammenhänge erfolgten im Interview Statement-Bewertungen (Abb.3). Die stärkste Zustimmung zu den vorgelegten Aussagen betrifft den Zusammenhang digitaler Preisschilder als Treiber für den Einsatz von Dynamic Pricing (80% Zustimmung, 93% im Segment der Befürworter).

Abb. 3: Statements zum Dynamic Pricing im stationären Handel Aufgabe: Bitte bewerten Sie die folgenden Aussagen zum Dynamic Pricing im stationären Handel von 1 = ‚Stimme zu‘ bis 6 = ‚Stimme gar nicht zu‘ Quelle: Exeo Strategic Consulting AG / Rogator AG

Nur 32 Prozent der Marketingentscheider stimmen der Aussage zu, DP werde in den nächsten drei bis fünf Jahren zum Standard im stationären Einzelhandel. Damit wird deutlich, dass das Thema aus Managementsicht auf keinen Fall als gesetzt betrachtet wird. Vielmehr unterstreicht die Studie ein erhebliches Maß an Unsicherheit. Selbst in der Teilgruppe der Befürworter von DP liegt die Zustimmung bei nur 43 Prozent. Gleichzeitig ergibt sich eine hohe Zustimmung (74%) zur Aussage, die meisten Händler hätten derzeit keine Strategie, wie sie mit dem Thema umgehen. Darüber hinaus werden negative Wirkungen auf die Kundenbeziehung befürchtet: 57 Prozent der Experten, die ein DP ablehnen, sehen eine abnehmende Kundenloyalität als Konsequenz der Preisflexibilisierung.

Die Grundüberlegungen zum Einsatz von DP im stationären Handel offenbaren ein erhebliches Maß an Komplexität. Der Einsatz einer flexiblen Preisgestaltung verspricht erhebliche Gewinnsteigerungen (durch höhere Umsätze und/oder reduzierte Kosten) – Dynamic Pricing könnte sich damit zum Branchenstandard entwickeln. Dennoch dürfen schnell erzielbare Margensteigerungen die langfristig notwendigen Kunden- und Partnerbeziehungen nicht gefährden. Die detailliertere Betrachtung der Eckpunkte für einen erfolgreichen Einsatz offenbart eine Reihe offener Fragen, die eine ganzheitliche Bewertung erfordern.

Genauso wie viele Vorhaben in der Implementierung von CRM-Lösungen Anfang der 2000-er Jahre zunächst nur als isolierte IT-Projekte aufgesetzt wurden und letztendlich scheiterten, ist eine umfassende, strategische Betrachtung erforderlich, die alle internen Aspekte (strategische Ausrichtung und eigene Kompetenzen, Möglichkeiten der Datenbereitstellung und -analyse sowie der Kostenstruktur und -situation) mit den externen Eckpunkten (Verbraucherwahrnehmung, Sicht der Wettbewerber und Handelspartner) ausreichend verbindet.

 

Prof. Dr. Andreas Krämer ist Vorstandsvorsitzender der Exeo Strategic Consulting AG in Bonn und Direktor des VARI e.V. (Value Research Institute) in Iserlohn.

Prof. Dr. Wolfgang Merkle gründete 2015 das Beratungsunternehmen ‚Merkle. Speaking. Sparring. Consulting.‘ und ist seit 2016 Professor für Marketing + Management an der University of Europe for Applied Sciences. Zuvor arbeitete er u.a. bei Otto, Zara, Galeria Kaufhof und Tchibo.

Abbildungsverzeichnis:

Abbildung 1: Exeo Strategic Consulting AG

Abbildung 2: Exeo Strategic Consulting AG

Abbildung 3: Exeo Strategic Consulting AG / Rogator AG

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